Die Vorgeschichte
Seit Emil Abrahamsson 2021 auf seinem YouTube-Kanal das Video „Hangboard Training 2 Times Per Day For 30 Days“ (Abrahamsson, 2021) hochgeladen hat, sorgen seine Annahmen und Ergebnisse, die er präsentiert, für rege Diskussionen in der Klettercommunity. In seinem Video beschreibt Abrahamsson, wie er durch ein niederschwelliges Hangboard-Training, das er zweimal täglich (morgens und abends) durchführte, signifikante Kraftzuwächse in seiner Fingerkraft erzielte. Diese Aussagen und Ergebnisse führten dazu, dass viele leistungsorientierte Kletterer die Methode ausprobierten – jedoch mit gemischten eigenen Ergebnissen. Denn die Erwartungshaltung jedes einzelnen war verständlicherweise enorm hoch und jeder ging davon aus, dass er nach 30 Tagen einarmig an der 20mm Leiste hängen bleibt.
Doch auf welche wissenschaftliche Grundlage stützt sich Abrahamsson in seinem Video, und was besagt der Artikel und Forschung von Keith Baar denn nun genau?
Der Artikel von Keith Baar
Keith Baar ist Dr. der Naturwissenschaft und forscht an der University of California in Davis. Sein Forschungsgebiet ist die Entwicklung des Bewegungsapparates und welche Rolle Bewegungen bei der Verbesserung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit einnehmen. (UC Davis, 2024)
Der Artikel „Minimizing Injury and Maximizing Return to Play: Lessons from Engineered Ligaments“ von Keith Baar aus dem Jahr 2017 liefert wichtige Erkenntnisse zur Optimierung von Training und Rehabilitation. Baar untersuchte mithilfe von künstlich erzeugten Sehnen und Bändern, wie Belastungen, Hormone und Nährstoffe deren Eigenschaften beeinflussen. Die zentralen Erkenntnisse seiner Forschung sind:
Trainingsstrategien
Die gezielte Gestaltung und richtige Steuerung der Dauer und Intensität von Trainingsreizen ist entscheidend, um die Anpassungsfähigkeit von Sehnen und Bändern zu fördern und so gleichzeitig das Verletzungsrisiko zu minimieren. Keith Baars Forschung hebt hervor, dass kurze, intensive Belastungen (max. 10 min) in Kombination mit ausreichend langen Erholungsphasen (mind. 6 Std.) besonders effektiv sind. Dies beruht auf der Reaktion von Sehnen und Bändern auf mechanische Belastungen und die danach einsetzenden Regenerationsprozesse. (Baar, 2017)
Intermittierende Belastungen und Kollagenbildung
Sehnen und Bänder bestehen zu einem großen Teil aus Kollagen, einem Protein, das für ihre Festigkeit und Elastizität verantwortlich ist. Mechanische Belastung durch Training stimuliert Zellen in den Sehnen (sogenannte Fibroblasten), Kollagen zu produzieren. Dieser Prozess erfolgt jedoch nicht kontinuierlich, sondern phasenweise. Untersuchungen zeigten, dass eine Belastungsdauer von etwa 10 Minuten ausreicht, um die Kollagensynthese zu stimulieren. Danach benötigen die Zellen mehrere Stunden, um das neu produzierte Kollagen zu stabilisieren und in die Gewebestruktur einzubauen. (Baar, 2017)
Eine zu kurze Ruhezeit zwischen den Belastungsreizen führt dazu, dass der Aufbauprozess unterbrochen wird, bevor er abgeschlossen ist und die instabilen Strukturen teilweise wieder zerstört werden. Daher sind mindestens sechs Stunden Pause zwischen den Trainingseinheiten idealerweise einzuhalten, um die volle Anpassung der Gewebsstrukturen zu ermöglichen. (Baar, 2017)
"Nicht das Training macht dich stärker, sondern die durch Training hervor gerufenen Anpassungsvorgänge. (...) Durch hartes Training werden wir beispielsweise anfälliger gegen Infektionskrankheiten und Ermüdung steigert die Wahrscheinlichkeit von Verletzungen. Die damit verbundenen Einschränkungen sind so gravierend, dass der Pausen- und Erholungsplanung im Leistungsbereich höchste Bedeutung zukommt!" (Neumann 2017, S.274)
Warum kurze Belastungen effektiver sind
Längere Trainingseinheiten oder Dauereinheiten können das Gewebe überfordern und führen langfristig zu Mikroverletzungen in den Strukturen anstatt zu den gewünschten, nachhaltigen Anpassungen. Dies erhöht das Risiko für Überlastungsschäden wie Sehnenreizungen oder Bänderdehnungen. Kurze, gezielte Einheiten hingegen minimieren diese Risiken und bieten folgende Vorteile:
Gezielte Reizsetzung: Die Belastung ist intensiv genug, um eine Anpassung zu stimulieren, bleibt jedoch unter der Schwelle, die Überlastung verursacht.
Effiziente Regeneration: Die langen Pausen zwischen den Einheiten ermöglichen den Sehnen und Bändern, sich vollständig zu regenerieren und neue Strukturproteine einzubauen.
Alltagstauglichkeit: Kurze Trainingseinheiten sind leicht in den Tagesablauf integrierbar, was sie zu einer praktikablen Methode für Sportler mit begrenzter Zeit macht. (Baar, 2017)
Anpassung an individuelle Bedürfnisse
Die optimale Belastungsintensität und -dauer können je nach Athleten variieren. Faktoren wie Alter, Trainingszustand, Geschlecht und genetische Veranlagungen beeinflussen das Belastungsspektrum eines Körpers. Jeder Körper reagiert individuell auf die ihm gestellten Belastungen. Daher sollte das Training individuell angepasst werden. Anfänger könnten mit geringeren Belastungen starten und gewöhnen ihren Körper an den Rhythmus der Zyklen von Belastung und Entspannung. Erfahrene Athleten haben sich an diesen Rhythmus angepasst und Prozesse laufen bei ihnen schneller ab. So müssen sie die Intensität stets steigern, um weiterhin Fortschritte zu erzielen. (Baar, 2017; Schoenfeld,2021)
Kombination mit anderen Trainingsformen
Das „2 times per day“-Modell ergänzt andere Trainingsformen, ersetzt sie jedoch nicht. Maximalkraft- oder Kraftausdauer- Trainingseinheiten bleiben weiterhin ein essenzieller Bestandteil der Trainingsplangestaltung, um Fortschritte in der Kletterleistung zu erzielen. Die intermittierenden Einheiten sind vor allem dazu gedacht, die Grundlage zu stärken, indem sie die mechanischen Eigenschaften der Sehnen und Bänder verbessern. Der Begriff „intermittierend“ bedeutet „zeitweilig aussetzend“ und beschreibt die Wechsel zwischen Belastung und Erholung.
Hormonelle Einflüsse
Hormone spielen eine zentrale Rolle für die biomechanischen Eigenschaften von Sehnen und Bändern. Besonders der Östrogenspiegel hat einen signifikanten Einfluss. Studien zeigen, dass ein erhöhter Östrogenspiegel die Steifigkeit von Bändern verringern kann, was ihre Belastbarkeit reduziert, und schlussendlich das Verletzungsrisiko erhöht wird. Dieser Effekt ist besonders bei weiblichen Athleten von Bedeutung, da der Hormonspiegel zyklusabhängig schwankt. In der Phase des Menstruationszyklus, in der der Östrogenspiegel besonders hoch ist, könnte das Risiko für Verletzungen wie Kreuzbandrisse steigen – ein bekanntes Problem im Leistungssport. (Leblanc et al, 2017).
Neben Östrogen können auch andere Hormone, wie Kortisol, eine Rolle spielen. Chronisch erhöhte Kortisolwerte, beispielsweise durch Stress, können die Regeneration von Sehnen und Bändern negativ beeinflussen und deren Anpassungsfähigkeit an Training vermindern.
Ein besseres Verständnis hormoneller Einflüsse ermöglicht es, Trainingsprogramme individueller zu gestalten. Beispielsweise könnten Belastungsspitzen bei weiblichen Athleten in hormonell bedingten Risikophasen reduziert werden, während regenerative Maßnahmen stärker priorisiert werden. (Baar, 2017)
Ernährung
Die Ernährung spielt eine entscheidende Rolle für die Gesundheit und Regeneration von Sehnen und Bändern. Eine ausgewogene Versorgung mit bestimmten Nährstoffen kann die Kollagensynthese – den Prozess, durch den neues Kollagen gebildet wird – erheblich fördern. Zu den wichtigsten Nährstoffen zählen:
Gelatine und Kollagen-Hydrolysat
Studien haben gezeigt, dass die Einnahme von Gelatine oder Kollagenpräparaten in Kombination mit Vitamin C die Kollagenproduktion anregt. Dies kann die Heilung verletzter Sehnen und Bänder beschleunigen und deren Belastbarkeit erhöhen. Eine typische Empfehlung lautet, etwa 5–10 g Gelatine oder Kollagen eine Stunde vor einem kurzen, intensiven Training einzunehmen, um die Wirkung zu maximieren. (Baar, 2017)
Vitamin C
Dieses Antioxidans spielt eine Schlüsselrolle in der Kollagensynthese. Es hilft nicht nur bei der Reparatur von Sehnen, sondern schützt auch vor oxidativem Stress, der durch intensives Training entstehen kann. (Friedrich, 2015, S.112 ff.)
Omega-3-Fettsäuren
Diese Fette wirken entzündungshemmend und unterstützen die Heilung von Mikroverletzungen, die durch wiederholte Belastungen entstehen. (Baar, 2017)
Zink und Kupfer
Beide Spurenelemente sind an der Kollagenbildung beteiligt und fördern die Wundheilung. Ein Mangel an diesen Nährstoffen kann die Regenerationszeit verlängern. (Friedrich, 2015, S.145 ff.)
Flüssigkeit
Zusätzlich zur Nährstoffzufuhr ist die ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit ein entscheidender Faktor. Dehydrierung hat die Verschlechterung der Nährstoffversorgung der Zellen zur Folge durch die Verdickung des Blutes. Dies hat Folgen für die Elastizität von Sehnen und Bändern, wodurch das Verletzungsrisiko wieder steigt. (Friedrich, 2015, S.163 f.)
Der Aufbau der Hangboard-Session
In Anlehnung an diese Erkenntnisse folgt der Trainingsaufbau für das „2 times per day“-Hangboard-Training einer klar definierten Struktur (siehe Tabelle 7). Jede Session sollte eine Dauer von maximal zehn Minuten nicht überschreiten, um die positiven Effekte der Kollagensynthese zu fördern, ohne die Sehnen und Bänder zu überlasten.
Empfohlen wird zum Trainieren ein festverbautes Hangboard aus Holz. Aus eigener Erfahrung empfehle ich die Hangboards von Beastmaker https://www.beastmaker.co.uk/collections/fingerboards. Es kann auch ein mobiles Hangboard verwendet werden, so ist man flexibel, wenn man es zeitlich nicht schafft, morgens und abends zuhause oder in der Trainingshalle die einzelnen Sessions abzuarbeiten. Ebenfalls ist eine analoge Waage, auf die man sich bei den no Hangs stellt, sehr hilfreich. So kann man die Entlastung bzw. Belastung auf den Fingern sehr genau steuern und die gewünschte Intensität genau trainieren.
Intensitäten berechnen
Die Hangboard Session
Fazit
Ein niedrigintensives Hangboard-Training kann das klassische Maximalkraft- oder Kraftausdauertraining nicht ersetzen, kann aber als eine wertvolle Ergänzung angesehen werden. Gerade wenn sich die Finger schmerzend und steif anfühlen, kann so Abhilfe geschaffen werden und die Strukturen neu gestärkt werden.
Das Hauptziel dieses Ansatzes liegt darin, Überlastungsschäden zu reduzieren, welche die häufigste Ursache für Trainingsunterbrechungen und Leistungsstagnationen sind. Durch robustere Sehnen und Bänder wird die Kraftübertragung effizienter, was langfristig die Gesamtleistung steigert.
Als positive Effekte dieses niederschwelligen Trainings (intermittierenden Reize) kann aufgezählt werden, dass Sehnen und Bänder robuster werden, indem die Kollagensynthese angeregt wird und die mechanischen Eigenschaften (wie Steifigkeit und Festigkeit) verbessert wird. So kann von einer Leistungssteigerung durch die Effizienz in der Kraftübertragung gesprochen werden. Robustere Sehnen und Bänder übertragen Muskelkraft effizienter auf die Knochen, was die allgemeine Leistungsfähigkeit steigert.
Wie Udo Neumann (2017) treffend formuliert:
„Deine Griffkraft wird sich umso besser entwickeln, desto behutsamer und langfristiger du sie aufbaust. Der ärgste Feind der Maximalkraft ist der Schmerz, deswegen ist das wichtigste Ziel, deinen Greif-Bewegungsapparat gesund und schmerzfrei zu halten!" (Neumann 2017, S.102)
Als Erkenntnis, welche wir nun gewonnen haben, kann die revolutionäre neue Trainingsmethode als Ergänzungstraining angesehen werde, aber der Große Game Changer, wie es sich alle erhofft haben, ist es nicht. Es hat eine neue Perspektive eröffnet und viel hilft eben manchmal auch nicht viel. Bewusstere Trainingssteuerung und achtsamer Umgang mit den eigenen Fingern ist ein Muss, wenn man lange und gesund klettern möchte.
Abrahamsson, Emil (2021): Hangboard Training 2 Times Per Day For 30 Days; YouTube, 09.02.2021,
Friedrich, Wolfgang (2015): Optimale Sporternährung – Grundlagen für Leistung und Fitness im Sport; 4. Auflage, Spitta Verlag GmbH & Co. KG, Balingen / Deutschland
Leblanc, D.R; Schneider, M; Angele, P; et al (2017): The Effect of Estrogen on Tendon and Ligament Metabolism and Function; 15.06.2017,
Neumann, Udo (2017): Klettertraining – Kraft, Beweglichkeit und Kontrolle für Kletterer, (…); 1. Auflage, Udini Mediaworks, Köln / Deutschland
Schoenfeld, Brad J; Grgic, Jozo; et al (2021): Loading Recommendations for Muscle Strength, Hypertrophy, and Local Endurance: A Re-Examination of the Repetition Continuum; 22.02.2021,
https://www.mdpi.com/2075-4663/9/2/32, 12.12.2024
UC Davis (2024): Keith Baar,